Alles, außer gewöhnlich

Durch eifrig in bedeutungslose Gespräche verstrickte Menschenpaare bahne ich mir meinen Weg hin zum Buffet, wohlbedacht keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, und immer mit einem Auge auf die Rotweinflaschen am Buffettisch schielend. Es ist das zehnjährige Klassentreffen meiner Maturaklasse und ich kann mich der Frage nicht erwehren, weshalb ich überhaupt gekommen bin.

Ich linse über meine rechte Schulter hinweg auf meine ehemaligen Kollegen: Wie sie da stehen, ihre Köpfe keck in den Nacken werfen und sich die Mäuler zerreißen. Ihre schnalzenden Zungen werden immer länger, schlängeln sich wie fleischgewordene Peitschen aus ihren Mäulern hervor und erfüllen die Luft mit ihrem Knall. Ich wende meinen Kopf noch einmal und erschaudere als ich merke, dass es inzwischen lediglich kopflose Leiber sind, in deren Mitte ich stehe. Enthauptete Körper, aus deren fetten Hälsen riesige, lange und tiefrote Zungen ragen, deren einziger Zweck es scheint, sich immer weiter zur Decke empor zu strecken. Ich denke an Hitchcocks Psycho, an diese große Szene am Ende des zentralen Dialoges im Film, da Norman Bates für einen Moment seine Gegenwelt verlässt und so grimmig und hellsichtig feststellt: „People always mean well! They cluck their thick tongues and shake their heads and suggest, oh so very delicately!” Und ich bin ja auch überzeugt davon, dass sie es wirklich nur gut meinen, wie sie da stehen und trinken und lachen und ach so delikate Vorschläge haben, zur Verbesserung der Welt im Allgemeinen und der Menschheit im Besonderen.

Ich klammere mich an mein Glas Rotwein und fühle mich in die Schulzeit zurückversetzt, als es noch mein Minidisc-Walkman mit den Depeche Mode Mixtapes war, an den ich mich klammerte, während ich meine Mitschüler aus der Ferne beäugte, in der ständigen Angst, sie könnten mich in meiner musikalischen Kontemplation stören.

„Saaaaaabiiiiiinee!“ dringt es plötzlich an mein Ohr. „Saaaaabiiiinee!“ und wieder. „Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!“ – Ja, zehn Jahre, Brainiac – „Wie geht’s dir denn? Was machst du eigentlich? Hab’ gehört du hast Medizin studiert? Spitze! Hab’ ich ja auch angefangen, aber dann, weißt eh, mein Mann und ich haben dann halt beschlossen es is’ besser wenn nur er fertig macht, weißt eh, wegen der Kinder und so! Sechs Jahre sind wir jetzt verheiratet, ma’ glaubt gar net wie die Zeit vergeht!“ Ich lächle, aus Verlegenheit und weil ich nichts zu sagen weiß. Es folgt eine kurze, eigenartige Stille.

„Ja, ich hab’ ja gar nicht geglaubt, dass du kommst, aber es freut mich total!“, sie spricht weiter, „du trinkst da den Zweigelt, gell? Du musst unbedingt den Shiraz probieren! Hab ich selber beantragt bei der Gudrun, dass uns auch an g’scheiten Wein hinstellen. Mein Mann und ich, wir trinken nichts anderes mehr, so gut is’ der, der Shiraz!“ Das Wort „Shiraz“ spricht sie dabei so aus, dass mir das Bild einer mit Skianzug, Skihaube und -brille bekleideten Ratte auf Skiern in den Sinn kommt. Das Bild gefällt mir und ich muss schmunzeln. „Saaaaabiiiiinee“ quittiert das ihrerseits mit einem breiten Grinsen, wohl im Glauben ihre Bemühungen des Weines wegen gereichten mir zur Freude. „Na, wirklich schön dich zu sehen! Jetzt muss ich noch ein paar Leuten ‚Hallo’ sagen, vielleicht können wir ja später noch ein wenig plaudern!“ Sie zieht von dannen.

Es war Miriam gewesen, eines der Mädchen in meiner Klasse, die nach der Pubertät nie so richtig in ihren Körper gepasst haben und irgendwann magersüchtig wurden. Sie war immer schon recht oberflächlich gewesen und wollte immer schon Medizin studieren. Anscheinend reicht es ihr heute einen Arzt zu heiraten. Nicht schlecht, und wenn sie nur weit genug ins Land hinaus ziehen, wird sie dort sowieso auch zur „Frau Doktor“, dort, wo die Welt noch in Ordnung ist und die Kinder rosige Bäckchen haben – was braucht man mehr?

Mir wird es zu blöd am Buffet zu stehen, weshalb ich meinen Standort an einen der Tische verlagern möchte, abseitig genug um nicht sofort ins Auge zu stechen und nahe genug um die Situation im Blick zu behalten.

„Sophie?“ Ein zarter Bariton haucht in meinen Nacken, als ich dabei bin meine ersten Schritte in Richtung Tische zu machen. Es ist Benjamin, der immer noch unfassbar gut aussieht. „Ich hätte nicht gedacht, dass du heute auch kommen würdest. Ich hab’ immer geglaubt du fühlst dich nicht so zugehörig, du weißt schon, zur Klassengemeinschaft und so.“ – Nun, sei du mal ein dickes, verpickeltes Mädchen, das vorwiegend Musik hört, die die anderen nicht mal ansatzweise kennen. – „Aber es freut mich, dass du’s geschafft hast.“, fügte er schnell hinzu. „Was machst du denn jetzt? Studierst du noch? Musikwissenschaft, oder?“ Ich höre ihm nicht wirklich zu, schließlich bin ich noch ausreichend damit beschäftigt ihn ein wenig zu bewundern. Es ist wirklich beachtlich wie wenig das Altern seine Schönheit gemindert hat, nein im Gegenteil, es hat ihn eigentlich nur noch schöner werden lassen. Beneidenswert, und irgendwie auch unheimlich.

Irgendetwas muss ich während dieser Überlegungen kommuniziert haben, denn er fährt fort: „Ja, ich habe erst Linguistik begonnen, fast fertig gemacht, dann hab ich aber keinen Sinn mehr drin gesehen und Germanistik begonnen.“ Er lacht. „Inzwischen bin ich in einer Anwaltskanzlei gelandet und mach’ Jus. Hätte mir das damals einer gesagt, ich hätt’ ihn ausgelacht. Aber was soll’s, wir alle müssen irgendwann erwachsen werden, oder?“ – Ja, Jus studieren ist das neue Erwachsenwerden, muss wohl so sein. Ich möchte kotzen. – „Es braucht halt ein wenig bis man weiß, wo man hingehört. Aber jetzt, wo es im Beruf halbwegs passt, läuft’s privat auch endlich optimal. Wart’ kurz!“ Er tritt kurz zur Seite und winkt eine kleine Blondine herbei, sehr mädchenhaft, vermutlich Anfang zwanzig. „Meine Verlobte, Jeanette.“ Er lächelt, „Ich weiß schon, es hat eigentlich geheißen keine Partner und keine Kinder mitbringen, aber ich dachte, weil sie eh in dieselbe Schule gegangen ist und es ist ja eigentlich auch ihr vierjähriges Maturajubiläum, irgendwo. Kinder haben wir auch noch keine, obwohl in sechs Monaten soll’s ja soweit sein, dann kommt er, der Bursch.“ Er lacht wieder, sie kichert wie ein Schulmädchen, ich gratuliere und entschuldige mich.

Ich frage mich wiederum, warum ich gekommen bin. Über das einjährige Maturatreffen habe ich nur gelacht, das fünfjährige interessierte mich nicht, und jetzt steh ich hier beim zehnjährigen und fühle mich deplatziert. Aber ich wollte kommen, von ganzem Herzen und nicht bloß aus Neugier. Einst hatte ich mir geschworen, dass mir diese Menschen egal sein würden, gleichgültiger noch als der Rest der Welt. Doch so einfach sollte es nicht sein mit der Gleichgültigkeit und ich erwische mich einmal mehr dabei, wie mir die Leben anderer doch bedeutsam scheinen, ja, in gewisser Weise sogar Einfluss auf mich üben, indem ich sie reflektiere, interpretiere, regelrecht seziere. Ich frage mich wie es sein muss ein Mensch des öffentlichen Interesses zu sein, jemand, dessen Leben ständig hinterfragt, gleichwohl aber auch bewundert wird und immer jenseits der Norm abläuft. Es muss dieses jenseitige Sein sein, das wir suchen, an dem wir uns ergötzen und in das wir übergehen wollen.

Ich denke an Mike ‚Hell’s Bells’ Bell, den gescheiterten Pro-Wrestler in der Steroid-Doku Bigger, Stronger, Faster, als er, den Tränen nahe, beteuert: „I was born to attain greatness. I need to attain greatness“ – und zwar auf die Frage seines Bruders, was falsch daran sei, ein normaler Mensch zu sein. Nichts, und Alles zugleich.

„Simone? Bist du’s wirklich?“ Eine leise und doch schrille Frauenstimme zerreißt meine Gedanken. „Unfassbar, also mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht mit dir! Wir haben ja alle schon gerätselt, ob’s dich überhaupt noch gibt. Die Ilse hat ja mal erzählt du bist nach Japan ausgewandert und lebst dort in einem Fischerdorf. Du bist aber nicht wegen dem Klassentreffen zurückgekommen, oder?“ – Manchmal ist es wirklich unglaublich, wie wenig sich die Dinge ändern. Man darf wahrlich nicht glauben, dass die Leute, nur weil sie das Maturitätsattest abgelegt haben, aufhören Schwachsinn zu erzählen. – Ich schüttle den Kopf kurz aber bestimmt und lächle mild. Sie fährt fort: „Haha, die gute Ilse! Wie in alten Zeiten. Ja, ich bin jetzt in einer Marketing-Firma und seit zwei Jahren glücklich verheiratet. In Bälde werden wir dann Hausbauen, na, so geht’s halt dahin. Den Benjamin hast ja auch schon gesehen oder? Eine ganz eine Liebe hat er sich da gefunden muss ma’ sagen! Es freut mich echt total, dass du kommen bist, wir haben uns ja wirklich alle Sorgen g’macht, dass es dir nicht gut geht, weil du ja in der Schule auch schon immer so, ich sag einmal, verschlossen warst.“ – Ja, die ganze Welt fragt sich nur, wann ich mich endlich umbringe. Ich fühle mich als sei ich wieder sechzehn. Ekelhaft. – „Na, es freut mich wirklich. Und ich muss sagen: gut schaust’ aus! Vielleicht könn’ ma ja mal was unternehmen. Kommst mich besuchen im neuen Haus dann, bringst deinen Mann mit und wir stoßen an, auf die alten Zeiten!“

Sie zieht von dannen. Dieser letzte Stachel sitzt tief. Ich ärgere mich, über sie und über mich selbst. Wieso können wir uns nur in dieser lächerlichen Dualität zwischenmenschlicher Beziehungen denken? Wo ist diese Grenze? Vor zehn Jahren noch galten Einladungen auch für uns als Individuen, niemand hätte seine Eltern mitbringen wollen, warum gibt es jetzt nur noch Partner, Paare und Familien – haben wir aufgehört Individuen zu sein? Aber ich bin selbst nicht frei von Schuld. Oft genug habe ich mich in Beziehungen dabei erwischt, wie ich mich durch mein Gegenüber definiert habe. Seine Wünsche wurden meine Wünsche – unsere Wünsche – ebenso verschmolzen Ziele und Wege. Und doch habe ich es immer irgendwie geschafft rechtzeitig die Reißleine zu ziehen, rechtzeitig vor der Selbstaufgabe. Aber ist es vielleicht nicht ganz gewöhnlich, irgendwann im Leben an den Punkt zu kommen, da man nicht mehr Individuum sein kann und gänzlich in eine gemeinschaftliche Existenz übertreten muss? Ein Punkt, an dem die individuellen Grenzen aufbrechen und die Mächte der Außenwelt ihre Wirkung entfalten, Fremdes und Vertrautes gleichsam auf die Seele einprasseln. Aber ich will mein Selbst nicht aufgeben und auch nicht hingeben, für niemanden.

Verstört taumle ich Richtung Ausgang, durch die Tischreihen hindurch, auf die Tür zu, die in dieses Extrazimmer führt, hinein in die Gaststube, raus, fort von diesem Ort niederträchtiger Menschlichkeit.

„Sara! Aber, du wirst uns doch nicht schon verlassen, oder?“ Es ist Gudrun, Klassensprecherin, der Endgegner: „Wir haben doch noch gar nicht plaudern können. Ich kann dich so nicht gehen lassen. Wir sehen dich doch eh so selten, da musst du uns schon da bleiben, und außerdem gibt’s noch was ganz Feines zu essen und eine Ankündigung hab’ ich auch noch zu machen: Uns gibt’s jetzt nämlich auch auf Facebook!“ – Sie lässt das Wort wie „Festbock“ klingen. Ein solcher wäre mir jetzt auch lieber als ihre resolute Gestalt in meinem Weg. – widerlich betont jovial setzt sie fort: „Na, was meinst du? So können wir uns viel besser auf dem Laufenden halten, ist doch wunderbar!“

„Tut mir leid, ich habe für heute genug von Leuten, die meinen Namen nicht kennen. Aber bestell’ bitte allen ganz liebe Grüße von mir.“ entgegne ich, möglichst inbrünstig, und marschiere zügig durch die Gaststube zur Tür hinaus.

Kalte Luft schlägt mir ins Gesicht. Ich atme tief durch. Am 14. Dezember ist Mike Bell gestorben und, ehrlich gesagt, mir ist auch schon ganz schlecht.

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