Die Bretter, die meine Rache bedeuten

Als ich sie zum ersten Mal sah, war es ähnlich schön. Ihre Augen, schienen so unendlich tief und wach, als blicke man in einen tiefen Brunnen in dem sich kleine schwarze, weiße, graue und grüne Fische tummeln, so lebendig und dabei so anmutig, ruhig und sicher in ihren Bewegungen. Ebenso waren ihre Lippen: Sanft und zart wenn sie lächelte, messerscharf und verletzend wenn sie Worte im Streit formten. Das Schönste an ihr war aber immer ihr Haar gewesen, weil es stets zum Ausdruck brachte, was sie tatsächlich empfand. Genauso wie es sanft bebte vor Glück wenn ich meine Hand hindurchgleiten ließ, wehte es wild umher, einen blonden Feuerregen formend, in Zeiten der Ausgelassenheit oder versetzte alle die sich ihr widersetzten in Angst und Schrecken, sobald sie es zum Kampf hinter dem Kopf zusammengebunden trug. Vor zwei Jahren schließlich gebar sie ein wunderschönes Mädchen, das wir, nach ihr, Sophie tauften. Damals wie heute zeigte sich der Herbst von seiner besten, sonnigsten Seite und auch jener unvergessliche Tag, an dem ich sie zum ersten Mal sah, war ein solch herrlicher Herbsttag gewesen.
Doch die wärmende Sonnenstrahlen, die mir einst als angenehm warmer Hauch schienen, der sich sanft über meinen Körper ausbreitet, gleichen heute den Vorboten einer grausamen Hitze, die nicht nur meine Haut verbrennt, sondern auch mein Blut kochen und meine Innereien schmelzen lässt.
Brett um Brett wuchte ich in den Dachstuhl, von der Hitze gelähmt, weshalb die Nägel sich mit an Hohn grenzender Langsamkeit ins Holz bohren. Selbst wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkommt, so müssen diese Handgriffe mit besonderer Sorgfalt getan werden, um eine ausreichend gleichmäßige Belastungsverteilung zu erzielen und damit ein Abreißen des Seiles zu verhindern. Als ich einst die Schaukel für meine Tochter baute, achtete ich auch peinlich genau darauf die Konstruktion stabil genug anzulegen, da ich es mir nie verzeihen hätte können, wenn sie durch meine Unachtsamkeit zu Schaden gekommen wäre.
Für meine Tochter gilt dasselbe wie für ihre Mutter, sie war und ist bildhübsch. Ich konnte es erst nicht fassen, dass jene Gene, die eine siechende Existenz wie die meine hervorbrachten, tatsächlich fähig gewesen sein sollten etwas derart Wunderbares zu schaffen, umso mehr also mussten die Gene ihrer Mutter an Qualität besessen haben.
Die kleine Sophie erhellte mein Leben, gab ihm einen Sinn: Fragte ich mich zuvor oft, ob es denn nicht jeglicher Vernunft widerspräche, dieses Dasein auf seine wenig ruhmreiche und trostlose Art fortzuführen, so verschwanden diese aufreibenden Fragen mit einem Schlag, als ich die Erlösung in Form eines kleinen Kindes erfuhr. Ihr Lachen alleine wusste alles Leid vergessen zu machen und meinen Blick für die Welt in ihrer Schönheit wieder zutage zu bringen.
Ein Brett befestige ich quer zwischen Dachbalken und Wand, dieses wiederum stütze ich mit zwei weiteren Brettern, wobei diese wiederum nach unten hin gesichert sind. So sollte meine Konstruktion für die Ewigkeit halten.
Hätte ich sie nicht abbauen müssen, so befände sich die von mir provisorisch zusammengezimmerte Schaukel wohl immer noch in unserer damaligen Wohnung, sicher und ohne scharfe Kanten an denen zarte Kinderhände verletzt werden könnten. Sophie aber war immer skeptisch gewesen. Die Kleine wolle gar nicht schaukeln, sie sei noch zu klein und ihr würde davon nur wieder schlecht werden, hieß es dann. Außerdem sei es unverantwortlich ein kleines Kind in diese „windschiefe Todesfalle“ zu setzen. Aber ich war mir immer sicher gewesen, dass unser Mädchen seine Schaukel liebte. Sie trug die selbe Freude in ihren Augen, das selbe Lächeln auf ihren Lippen, wenn ich sie gemächlich auf und ab schaukelte, wie es ihre Mutter später nur noch in aller schönsten Momenten zeigte und zum Ende hin nicht einmal mehr im geringsten Ansatz erahnen ließ. Und dabei war es dieses Lächeln, das Symbol ihrer schier unerschöpflichen scheinenden Lebensfreude, was mich damals für immer an sie band und nie wieder loslassen sollte.
So baue ich aus den selben Brettern, die einst jenes Konstrukt bildeten, das für meine Tochter, den kostbarsten Schatz der mir im Laufe meines Lebens zuteil werden sollte, und mich Anlass größter Freude und grundehrlicher Unbekümmertheit gewesen war, für ihre Mutter aber immer nur einen Stein des Anstoßes bedeutet hatte, in dieser meiner neuen Wohnung etwas größeres, besseres, das hoffentlich mein trostloses Leben grundlegend verändern wird.
Wir hatten uns schließlich getrennt. Wie eine Krankheit brach die Zwietracht über unser beider Leben herein und zerstörte alles, was wir so mühsam aufgebaut hatten. Ich liebte sie damals genauso, wie ich sie heute noch liebe. Nie liebte ich ein Wesen – mit Ausnahme unserer gemeinsamen Tochter, wobei dies eine andere Form der Liebe ist, wie sie nur zwischen Vater und Kind bestehen kann – so intensiv und bedingungslos wie sie. Jeder Atemzug galt ihr, jede Sekunde wachen Verstandes opferte ich ohne zu zögern dem Gedanken an sie. Doch sie erwiderte diese Liebe eines Tages plötzlich nicht mehr, wollte die Scheidung. Nun ist dies wahrlich keine außergewöhnliche Begebenheit, beinahe eine Alltäglichkeit in diesen Tagen, und doch traf es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Es passe einfach nicht mehr, die Dinge hätten sich geändert. Ich konnte es nicht begreifen. Den Kopf sollte ich hochhalten, es kämen wieder andere Frauen, lautete dann der freundschaftliche Versuch einer Aufmunterung. Dass dem niemals, unter keinen Umständen, so sein würde, wusste ich nur zu gut. Wer einmal das Paradies gesehen hat, spuckt auf alles was ihm auf Erden als Glück feilgeboten wird. Kein weibliches Wesen würde ihrer Person gleichkommen können, es war völlig ausgeschlossen.
Ich legte den Strick behutsam um die zuvor geschaffene Verbindung zwischen Wand und Dachstuhl, knotete ihn fest und zog mit aller Kraft daran, um mich der Tragfähigkeit zu versichern. So verankert konnte nichts schief gehen und wenn sich zwanzig ausgewachsene Männer daran hingen.
Genauso wie ich mich einst in den unendlichen Weiten ihrer Augen verlor, betrat ich nach der Trennung einen ebenso tiefen Abgrund der Isolation. Aus dem Paradies verstoßen, war ich bereit mich in dieses Loch zurückzuziehen, möglichst tief, auf dass kein Sonnenstrahl mehr an mein Gesicht rühren möge. Ich war bereit mich in eine Art mönchischer Askese zu begeben, mich der Abhängigkeit von dieser einzigartigen – für mich – gottgleichen Person, deren Nähe mir für immer verwährt bleiben sollte, zu ergeben, indem ich mich in das Leid der Erkenntnis einer großartigeren Existenz fügte und damit zur Loslösung von aller Begierde verpflichtete. All dies war geknüpft an den Gedanken an meine Tochter, deren Lebensfreude und Liebe mich durch diese Zeit nicht zu bewältigenden Leides tragen sollten.
Doch auch dies war mir nicht vergönnt. Sophie empfand mich als Bedrohung für unsere Tochter und konnte vor Gericht erreichen, dass mir jeglicher Kontakt zu meiner Kleinen, bis zu deren 21. Lebensjahr und ausdrücklichem Einverständnis untersagt blieb. Sie hatte bereits die Seele aus meinem Leibe gerissen, nun spuckte sie voller Hohn und Ekel darauf. Ich musste Schulden auf mich nehmen, um ihr die ihr zugesprochene Summe erstatten zu können und hatte gute Chancen meine Tochter im Leben nie wieder zu sehen. Auch mein Arbeitgeber hat mich Tage darauf fristlos entlassen. „Personalreduktion“, hieß es. Man könne mir leider nur eine minimale Abfindung bieten, es sei nicht gerade gut um das Wohl der Firma bestellt. Aber für einen jungen, arbeitsfrohen Mann wie ich einer sei, stünden doch alle Tore offen, sagte man mir. Den wahren Grund bekam ich genauso wie die ersten Worte meiner Tochter, nie zu hören.
So hause ich nun in dieser neuen, widerlich leeren Wohnung und habe praktisch nichts als die Bretter mit denen ich einst eine Schaukel für mein wundervolles kleines Mädchen gebaut habe. Doch ich bin jung und kann mein Leben noch formen, meint zumindest der smarte Herr im Fernsehen und der muss es ja wissen, schließlich wirkt er ja ganz glücklich mit seinem Anzug, dem gut gekämmten Haar und diesem Gewinner-Lächeln auf seinen Lippen. Die Zeiten in denen mir auch noch zum Lächeln zumute war, scheinen mir so unendlich fern.
Wenig später baumelt Theodor M., 23, gelernter Bürokaufmann und schwer verschuldeter Vater einer zweijährigen Tochter, mit gebrochenem Genick an seinem selbst gebauten Galgen.
Wieder etwas später steht er als Nummer 532 der Suizidstatistik für das Jahr 2005 in der Polizeiakte.
Noch etwas später hat ihn auch seine Tochter Sophie vergessen.

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